Josefsheim, Bigge

Bundes- und europaweite Aktionstage für Gleichstellung – Ein Interview mit Betroffenen der Josefsheim gGmbH

Olsberg-Bigge – Seit 1992 finden bundes- und europaweit Anfang Mai zahlreiche Aktionen der Menschen mit Behinderungen im Mai statt, um ihre Forderungen zu Inklusion und Teilhabe gegenüber Politik und Gesellschaft an die Öffentlichkeit zu bringen.

 

Was hat sich in den letzten Jahren konkret getan? Weshalb sind Proteste weiterhin wichtig? Wir sprachen mit Sonja Haase, Vorsitzende des Werkstattrates der Josefsheims Bigge gGmbH, Hannes Wendel und Jürgen Kröger (Werkstattratsmitglieder) über die aktuelle Situation.

 

Frau Haase, Sie sind Vorsitzende des Werkstattrates des Josefsheims und erste Ansprechpartnerin für mehr als 400 Beschäftigte der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) in Bigge. Wie kamen Sie zu diesem Engagement für Menschen mit Behinderung?

 

Sonja Haase: Wir als Werkstattrat setzen uns nicht nur für die Werkstattbeschäftigten ein, wir sind auch überregional aktiv. Wir kooperieren bundesweit mit Werkstatträten und Verbänden, um unsere Ziele politisch durchzusetzen. Jedes gemeinsam erreichte Ziel, beispielsweise das Behindertengleichstellungsgesetz, ist Ansporn genug. Auch die Werkstattbeschäftigten vor Ort brauchen einen Ansprechpartner, vergleichbar mit einem Betriebsrat oder einer Mitarbeitervertretung. Meine Kollegen Jürgen Kröger und Hannes Wendel unterstützen mich dabei.

 

Wenn man einmal zurückblickt, sorgte ein kleiner Kreis von Menschen dafür, dass der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ im Jahr 1994 in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgenommen wurde. Doch damit war es nicht getan. 1997 unterstützte die Aktion Sorgenkind - jetzt: Aktion Mensch - die Bewegung und immer mehr Menschen gingen bundesweit auf die Straße, um ihr Recht durchzusetzen. Wie man sieht, kann man etwas erreichen, wenn man sich aktiv einsetzt. Einiges hat sich im Laufe der Zeit entwickelt, bei anderen Themen gibt es noch immer viel zu tun.

 

Sie kennen sich aus mit der Gesetzeslage. Mit welchem Beratungsbedarf/Beschwerden werden Sie am häufigsten konfrontiert?

 

Sonja Haase: Die Menschen mit Behinderungen sind die Experten, nicht die, die in Behörden sitzen oder Gesetze verabschieden. Nur Betroffene wissen, was geändert werden muss. Sie kommen bei Fragen zu uns und äußern Änderungswünsche.
Beratungsbedarf besteht zunächst einmal bei der Formulierung der Gesetze und Vorschriften. Diese sollten deutlicher formuliert werden. Zu uns kommen aber auch Menschen, die auf Wohnungssuche sind und den Mietvertrag überprüfen lassen möchten und vieles mehr.

 

Jürgen Kröger: Sonntag waren Landtagswahlen. Bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 2019 durften viele Menschen mit einer komplexen Behinderung nicht wählen. Zum Glück ging das Urteil zugunsten der Klagenden aus. Für derartige Gesetzesänderungen, in diesem Fall das Bundeswahlrecht, braucht man eine starke Interessenvertretung. Sie sorgt dafür, dass die Grundsätze der UN-Behindertenrechtskonvention auch tatsächlich umgesetzt werden. Unsere Beratung ist sehr umfangreich, denn wir sind sowohl über aktuelle Urteile als auch über Gesetzesänderungen informiert.

 

Hannes Wendel: Ein großes Problem haben auch viele mit der gesetzlichen „Betreuung“. Beispiel Arztpraxis: Da wird nicht der Patient angesprochen, sondern der Betreuer. Das ist schon ein diskriminierendes Gefühl und ein Beispiel für fehlende gesellschaftliche Akzeptanz für Menschen mit Behinderung. Ich kann dann nur raten, die Praxis zu wechseln.

 

Ein Ziel des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ist, dass Menschen mit Behinderung und ihre Verbände von Anfang an und kontinuierlich am Gesetzgebungsprozess beteiligt werden. Ist das so? Und wie können Sie, als Werkstattrat, helfen?

 

Jürgen Kröger: Optimal ist vieles noch nicht. Denn auch Verbände sind auf Informationen ihrer Mitglieder angewiesen. Wir als Werkstattrat stehen dazwischen und bringen die Infos ein.

 

Sonja Haase: Durch die sogenannte Eingliederungshilfe werden Leistungen nun an dem persönlichen Bedarf orientiert. Viele Fragen tauchten auf, zum Beispiel zum Thema Mieten und selbstständiges Wohnen. Diese gut gemeinten Änderungen müssen sich nicht immer positiv auf die Betroffenen auswirken. Ich versuche zunächst, Berührungsängste abzubauen. Denn beide Seiten müssen tätig werden.

 

Welches waren die größten Errungenschaften der Änderungen? Wo gibt es weiterhin Handlungsbedarf?

 

Jürgen Kröger: Die größte Errungenschaft sehe ich in dem Paradigmenwechsel hin zu einer echten Teilhabe im Alltagsleben. Allerdings fehlt noch immer die Barrierefreiheit in vielen Bereichen, sei es im ÖPNV, beim Einkaufen oder bei der Wohnungssuche.

 

Auf dem bundesweiten europäischen Protesttag Anfang Mai zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen gingen zahlreiche Institutionen, Vereine und Menschen auf die Straße. Das Motto lautete: „Tempo machen für Inklusion – barrierefrei zum Ziel“. Weshalb dauert die Umsetzung der Gesetzgebung so lange? Waren Sie auch dabei?

 

Sonja Haase: Na klar waren wir dabei! Wir sind generell das ganze Jahr über politisch aktiv. Unsere Arbeit ist jeden Tag gefragt. Das war auch das Ansinnen von unserem JG-Gründer Heinrich Sommer. Er setzte sich für Arbeit für Menschen mit Behinderungen und deren selbstbestimmtes Leben ein. Auch sie brauchen eine Struktur im Leben. Doch am Ziel sind wir noch lange nicht. Das ist ein Prozess über viele Jahre und nicht nur ein Werkstatt-Thema.

 

Jürgen Kröger: Viele Barrieren müssen noch abgebaut werden. Auch in den Köpfen der Menschen.

 

Ferdi Lenze, Behindertenbeauftragter der Kreis- und Hochschulstadt Meschede, sagte auf der Protestkundgebung in Meschede: „In den nächsten 30 Jahren werden wir uns weiter für die Rechte der Menschen mit Behinderung einsetzen.“ Was sind in Ihren Augen die wichtigsten Vorhaben?

 

Hannes Wendel: Da fallen mir spontan als große Beispiele mehr barrierefreie Wohnungen und mehr Akzeptanz für psychische Erkrankungen ein. So auch die Forderungen auf den Bannern. Aber es sind auch noch so viele kleine Dinge. Das alles ist ein langer Prozess. Unser Mobilitätstrainer setzt sich zum Beispiel schon seit langem mit uns dafür ein, dass Verkehrsschilder in einfacher Sprache die Orientierung im allgemeinen Straßenverkehr unserer Stadt erleichtern. Das ist ein ganz konkreter Bereich. Hier könnte doch zum Beispiel schnell etwas passieren.

 

Quelle: Artikel vom 21.05.2022 im Sauerlandkurier HSK

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